Bibliotheken

Letzthin war ich wieder einmal in einer Bibliothek. Bibliotheken sind wie
eine Erweiterung des Hirns. Man kann suchen und kann finden. Am besten ist
es, wenn man bis auf Seitenzahl genau weiss, wo ich finden will, was ich
suche. Ansonsten muss man während des findens suchen, aber genau das ist der
grosse Nutzen von öffentlichen Bibliotheken. Suchen, durchforsten, scheinbar
zufällig schmökern und dann von neuen Impulsen umworben werden, Meinungen
revidieren, einen Pfad gehen, sich durch den Dschungel schlagen und in der
Bleiwüste verirren... Öffentliche Bibliotheken sind wie fremde Länder.
Öffentliche Bibliotheken sind auch wie Menschen, Begegnung mit Menschen.
Eine eigene Bibliothek bleibt da sehr begrenzt. Wer kauft schon Bücher, die
Detailfragen vom Gegenteil dessen behandeln, was man selber glaubt und
denkt? Vielleicht hat man die Standardwerke mal irgendwo gekauft. Diese
Standartwerke unterscheiden sich dann auch stark (z.B. in der Religion der
Koran, die Bhagavad-Gita, die Bibel, etc.). Die Bücher, welche die das in
Standartwerken gesagte ins heutige Leben bringen wollen, sind dann meistens
gar nicht so voneinander verschieden.
Ich frage mich manchmal, ob Bibliotheken luftleere Räume sind? Fast wie
ausserhalb von Zeit und Raum, und von dort aus kann man dann die Aussenwelt
beobachten. Wahrscheinlich gibt es auch hier in der Schweiz verbotene
Bücher, die man in öffentlichen Bibliotheken nicht finden kann. Warum? Weil
die Worte Macht haben. Diese Aussage scheint durch die Inflation von Worten
in einer Bibliothek unreal. Trotzdem kann ein einzelnes Buch, eine einzelne
Seite, ein markanter Satz eines Buches unglaubliches in uns Menschen
bewirken. Die Bibliothek ist also eine Ansammlung von Macht. Die Bücher
selber sind ohnmächtig, sie bedürfen erst unserer Aufmerksamkeit, unserer
Bereitschaft, sie zu lesen und zu verstehen. Streitigkeiten, über denen
jahrelang Tausende von Menschen ihr Leben liessen, können im Regal in
Buchform friedlich nebeneinander stehen. Und das über Jahrhunderte! Bücher
haben keine aktive Macht. Um Macht zu bekommen, müssen die Bücher gelesen
werden. Je nachdem was wir aufnehmen, so unterschiedlich ist die Macht, die
uns vom Buch gegeben ist. Reine Macht zu erhalten und auszuüben hingegen ist
nicht schwer. Ich könnte in meiner Wohnnung Hamster oder Fliegen halten,
tausende, und bestimmen, wann sie essen und trinken, und sterben. Das wäre
auch Macht. Aber in der Bibliothek kann ich aus der Fülle der mir
präsentierten Titel wählen, welche Art von Macht ich mir zuführe. Man könnte
vielleicht sagen: "Was ich lese, werde ich sein." Welche dieser vielen
Bücher bringt mir am meisten positive Macht? Lese ich zum Beispiel
Illustrierte, bekomme ich Macht andere zu kritisieren, die Fürstenhäuser
Europas zu kennen, vielleicht entsteht daraus Neid, vielleicht Bewunderung,
oder ich kann davon träumen, wie es wäre, was ich mir als Reicher alles
leisten könnte. Lese ich Fantasy (z.B. Herr der Ringe) bekomme ich Macht,
mich in andere Welten zu begeben, mich in Personen hineinzuversetzen,
vieleicht ergibt das Realitätsflucht, vielleicht Mitgefühl, oder dann lebe
ich dank dieser Geschichten auch mehr oder weniger in einer Traumwelt. Lese
ich Sachbücher, werde ich Macht bekommen über technische Probleme, komplexe
Fragen, ich werde vielleicht beginnen, die Welt zu ordnen, zu
kategorisieren, Kontrolle auszuüben, vielleicht will ich mehr Macht, über
alle, durch meine Intelligenz, oder dann werde ich zu jemandem, der in
seinem Fach unschlagbar ist, und diese Haltung auf alle Lebensbereiche
ausdehnt.
Was ich lese hat Macht auf mich. Stellt man sich hinter jedem Buch eine/n
oder mehrere Autoren/Autorinnen vor, ist in einer Bibliothek eine grosse
Menschenmenge versammelt. Von denen nehme ich dann eine, zwei mit, und
verbringe mit ihnen einzeln Abende, Wochenenden und alle möglichen
Wartezeiten. Ich lasse sie sprechen, sie haben das Wort und ich kanns ihnen
nicht verwehren. Schliessen kann ich das Buch (oder den Blog), und den
"Stürmi" alleine lassen mit seiner Geschichte oder These. Ich bin ihr/ihm
keine Antwort schuldig. Aber das Buch wird auf jeden Fall Konsequenzen auf
mein Leben haben. Darum sind öffentliche Bibliotheken das gefährlichste der
Welt. Aber auch etwas vom interessantesten, lebensveränderndsten, und
insprierendsten, eine unendliche, unüberblickbare Erweiterung des Hirns. Sie
sind überhaupt kein luftleerer Raum. Sie haben Macht.


1 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hey Juerg! Bin begeistert. Wie du mit Worten spielst, Begriffe (er)-findest und die ganze Welt meines 0815 Denkens in Frage stellst ist gremös. Du bist der Mann! Du hast das Zeug um eine Glosse zu schreiben in der Zeitung! Wär das was? Bitte melde dich. Worte haben Macht. Machts was? (Schmunzli, Ürsel, Bänz Jimmy usw;-)