Essay zum Bilderverbot in den Zehn Geboten

Locken, Glatze, blaue, braune Augen- man hat keine genaue Überlieferung, wie Jesus ausgesehen hat. Was uns überliefert ist, sind höchstens ein paar Bemerkungen zu seinen Kleidern. Jesus hatte anscheinend keine auffälligen, äusseren Attribute. Nichts, das ihn äusserlich von seinen Zeitgenossen unterschieden hätte. In den Evangelien werden vielmehr sein inneres Wesen und seine Handlungen beschrieben. Sein Wesen war wichtiger als sein Aussehen. Übertragen auf die Ästhetik: Der Inhalt war wichtiger als die Form.
Jesus sagt von sich: "Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Und von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen. ... Wer mich sieht, der sieht den Vater!" (Joh. 14, 7.9)

Jesus erweitert das zweite Gebot „Du sollst Dir kein Bildnis machen“.  Er zeigt sich als Bild Gottes aber nicht in einer vollendeten Form oder in einem perfekten Bild, das Gott JAHWE gerecht geworden wäre. Er zeigt sich immer wieder als ein anderer, als wir uns gedacht haben. Jesus, Gott kann nicht in einem Bild fixiert werden. Der tiefe Wunsch nach Objektivität in Bezug auf Gotteserkenntnis kann nicht gestillt werden. Paulus sagt: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“ (1.Kor.13,12f.) Alles was wir von Gott erkennen, kann nur bruchstückhaft erkannt werden. Genau wie die besten Bilder in Kunstwerken niemals die volle Wahrheit und Schönheit vereinigen können, bleibt auch unsere Erkenntnis Bruchstückhaft. An einer wichtigen Stelle fragt Mose Gott nach seinem Namen, wie er ihn denn nennen solle. Gott beschreibt sich Mose als: „Ich bin, der ich bin“, oder anders übersetzt: „Ich bin, so wie ich mich zeigen werde.“ (Ex 3,14) Gott zeigt sich, wie er Mose versprochen hatte, nach und nach. Ich glaube, dass das zweite Gebot sagen will: Du machst Dir Bilder von mir. Lass mich sie reinigen und Dir nach und nach neue Bilder schenken. Martin Buber beschreibt diesen Wunsch nach fixen Gottesbildern in einer Auslegung der Zehn Gebote folgendermassen: „Ihr braucht mich nicht zu beschwören; denn ich bin da, bin bei euch. Aber ihr könnt mich auch nicht beschwören; denn ich bin jeweils so bei euch, wie ich jeweils sein will; ich selber nehme keine meiner Erscheinungen vorweg, ihr könnt mir begegnen nicht lernen, ihr begegnet mir, wenn ihr mir begegnet.“

Ich denke, dass wir uns oft gar nicht bewusst sind oder nicht eingestehen, welche Bilder wir uns von Gott machen. Martin Luther sagte, wir können  „nichts ohne Bilde dencken noch verstehen“.  Jeder und Jede macht sich Bilder, ob diese gemalt sind oder in Gedanken oder Vorstellungen da sind. Meine Grossmutter hatte ein gemaltes Bild von Jesus als dem guten Hirten im Schlafzimmer. Dieses Bild war ihr sehr wichtig. Ich konnte das nie so ganz verstehen, denn einerseits habe ich diese Malerei als kitschig und einseitig wahrgenommen. Anderseits bewunderte ich ihren Mut, Jesus ein Gesicht zu geben und ihn auf ein Bild zu bringen. Es ist diskutabel ob Gottesbilder auch visuell zu gestalten sind. Wenn sie nicht heilsnotwendig oder angebetet werden, haben wir die Freiheit, Bilder von Gott darzustellen.
Jetzt, nachdem meine Grossmutter gestorben ist, liegt das Bild auf dem Estrich. Es hat für uns keine besondere Bedeutung mehr. Es ist kein heiliges Bild, es war für meine Grossmutter nur eine Stütze, eine Verbildlichung ihres Glaubens. Geraten unsere gemalten oder gedachten Gottesbilder allzu genau fixiert, werden sie mit der Zeit verstauben und verbleichen. Sie müssen immer wieder von Gott erneuert werden. Das muss nicht bedeuten, dass die alten Gottesbilder nichts mehr taugen und auf dem Estrich oder im Müll landen müssen. Angeregt durch das Verhalten meiner Grossmutter- mi der ich übrigens nie über dieses Bild gesprochen habe- arbeite ich an meinen eigenen Gottesbildern. Momentan ist es die Sonne hinter Wolken: Ein Bild das mir Gottes  Majestät und unsichtbare Präsenz visualisiert. Ich wünsche ich mir, in meinem Zimmer im Altersheim die Wände mit all den verschiedenen Gottesbildern meines Lebens vollhängen zu können. Ein Bild von einem König, einem Richter, einem Schöpfer; einem Retter, einem Heiler, einem Freund; einem Tröster und einer Mutter und einem Vater und wie Gott sich sonst noch zeigt.

Jürg Zurbrügg
[1] Martin Buber: Kampf um Israel (1933), 14.
[2] Martin Luther: Osterpredigt 1533, WA 37, 63,25f