Eiskalte Blicke

Gestern, ich hatte meinen Kragen ganz weit oben zugeknöpft, fuhr mit
langen Unterhosen und Handschuhen auf dem Velo in die Stadt. Es war so
kalt und ungemütlich, dass auch alle Weihnachtslichter einem nicht
wirklich wärmen konnten. Den Mund halb offen, die Lamakappe von Nepal
tief in der Stirn, blieb mein Blick an einem Mann mit Frauenbegleitung
hängen. Ich muss ihn regelrecht angestarrt haben. Als die Ampel wieder
grün wurde, bemerkte ich selbst, dass ich wohl recht doof ausgeschaut
haben muss, fragte mich warum und sah dann: Der Mann hatte nur ein
T-Shirt an! Mein Unterbewusstsein hatte etwas ungewöhnliches registriert
und daran blieb mein Blick hängen.

Nun, dieser kurzärmlige ist selber schuld, wenn er bei diesem eisigen
zartbitterkalten Wetter angestarrt wird. Ich muss aber sagen, dass mir
genau dasselbe schon bei Menschen mit Behinderung passiert ist: Ich
glotze auf das Kind ohne Arme, ich starre dem Blinden in die Augen, ich
brüte über der Gangart einer Frau mit Kinderlähmung! Das würde diese
meine Mitmenschen wohl nicht weiter stören, wahrscheinlich wird es für
sie erst unangenehm, wenn ich mein Verhalten bemerke und regelrecht
aufschrecke und wegschaue. Man darf ja Behinderte nicht anstarren.
Behandeln wie normale Menschen, habe ich gelernt. Aber mein
Unterbewusstsein teilt nach wie vor in "normal" und "nichtnormal" ein.
Sonst wäre mir auch nicht dieser T-Shirt-Mann bei meiner Fahrt in die
Stadt aufgefallen.

Wäre es für mich denn sinnvoll, ein Unterbewusstsein zu haben, das nicht
zwischen normal und abnormal unterscheidet? Muss ich es trainieren,
damit es nicht in Kategorien entscheidet? Damit der Blick nirgends und
überall gleichermassen hängt? Nicht mehr unterscheiden zwischen schön
und wüst, gut und schlecht, gerecht und falsch, schwarz und weiss? Sonne
oder Mond? Kann man _nicht _kategorisieren?

Kategorisieren müsste ja noch nicht heissen, die Dinge zu werten.
Interessante Dinge müssen interessant bleiben. Sonst werden sie nur
durch etwas anderes ersetzt. Neben tausend Durchnittsgesichtern löst
eine schöne Dame bei mir etwas aus. Neben tausend zweiarmigen Menschen
löst ein Kind ohne Arme etwas in mir aus. Ich denke nicht, dass ich mir
das abtrainieren möchte. Denn dann wären entweder alle Menschen
Durchschnitt oder ich fände auf einmal Menschen interessant, die jetzt
für mich Durchschnitt sind, zum Beispiel alle Männer mit Schnauz oder
Schwarzhaarige oder alle mit fünf Fingern an einer Hand. Genau dann
würde wieder eine Minderheit entstehen und wir wären wieder gleich weit.

Dazu kommt, dass Menschen, die aus dem Durchschnitt "fallen" mit diesen
Blicken irgendwann lernen umzugehen. Auch der T-Shirt-Mann wird
irgendeine Strategie haben, die zweifellos häufigen Blicke der
vorweihnachtlichen Shopper bei sich einzuordnen.